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Naturwissenschaft, Kunst- und Kulturgeschichte

Manuskript eines Vortrags in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe im November 2002

Wolfgang Klose

Japanische Mentalität im Bild moderner Museumsarbeit des Nationalmuseums Kyôto

Im Jahre 1995 erklärte die UNESCO eine Reihe historischer Schreine und Tempel in Kyôto und seiner Umgebung zum Weltkulturerbe. Die Kuratoren des Nationalmuseums in Kyôto nahmen dies zum Anlass sich zu fragen, was eigentlich das Spezifische an japanischer Kultur sei, das diesen Schritt rechtfertigte.

Die Ausstellung Manazashi no Bôken まなざしの冒険

Das Ergebnis der Überlegungen fand seinen Niederschlag in einer Sonderausstellung vom 26. März bis 6. Mai 1996 mit dem Titel Manazashi no Bôken (Das Abenteuer, einen Standpunkt zu haben: Die Kunst Japans aus sieben Blickwinkeln). Darin wurde versucht, spezifisch japanische Kunstwerke zu präsentieren, die keine Entsprechungen außerhalb Japans hatten. Die Objekte waren in sieben Kapitel eingeteilt: (1) Sorgfältiges Arrangement ähnlicher Dinge; (2) Unvollständiges; (3) Darstellung des Menschen; (4) Wogende Landschaften; (5) Kleine Dinge; (6) Verborgene Bedeutung [Allegorie, Travestie, Phantasie]; (7) Lebendige Natur. Der Anspruch war, die Gemeinsamkeiten einer japanischen Ästhetik zu zeigen, unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung der Kunstwerke und unabhängig von der künstlerischen Schule. Die Museumskuratoren „empfanden es als Abenteuer, diesen ästhetischen Standpunkt einzunehmen“.

Der bescheidene 24-seitige Katalog listete 164 Nummern auf, darunter 15 Nationalschätze und 25 Objekte des Nationalen Kulturellen Erbes Japans. Die Kapitel 2 und 6 hatten mit 13 bzw.14 Nummern die wenigsten Exponate, die Kapitel 1, 4, 5 und 7 enthielten je 21 Objekte, während der Bereich 3 mit 37 Ausstellungsstücken am ausführlichsten bestückt war.

Die oben angegebenen Kapitelüberschriften sind unvollkommene Übersetzungen der Originaltitel. Durch die im japanischen immer präsente Mehrdeutigkeit der verwendeten Schriftzeichen, von denen manche heute sogar unüblich sind, wurde dem japanischen Leser ein breiteres Feld geöffnet.

Der Publikumserfolg gab wohl die Anregung, eine weitere Ausstellung mit ähnlichem Anspruch folgen zu lassen. Das Museum schrieb dazu (Kursive Abschnitte sind dem Museumskatalog oder dem Internet entnommen)

  • Das Ungewöhnliche der Ausstellung von 1996 war, durch sehr ernsthafte Betrachtungen vorzuführen, dass es unsere Standpunkte sind, die Objekte entweder emporheben oder sie gering schätzen lassen, handele es sich dabei um archäologische Gegenstände oder solche unserer japanischen Geschichte. Sie lieferte die Anregung, Tiefe und Glut unseres japanischen Standpunkts wiederzuentdecken. Schönheit ist nicht alles. Was wirklich wichtig ist, ist die Kraft und der nicht aufzuhaltende Drang, sich mitzuteilen. Wir hoffen, dass unsere neue Strategie den Besuchern helfen wird, diese entscheidende menschliche Motivation besser zu begreifen, mit ihr zu sympathisieren und von ihr ergriffen zu werden. Als Museum würde uns nichts glücklicher machen.

Die Ausstellung Ningen

Diese (zweite) Ausstellung der neuen Art erfolgte vom 23. Oktober bis 25. November 2001 und stand unter dem Motto Ningen (Menschen).

Mit Ningen ist nicht der Mensch als Individuum gemeint, sondern der Mensch als soziales Wesen. Für japanische Besucher war das vom verwendeten Schriftzeichen her evident und wurde durch den Untertitel zur Ausstellung "Wir Japaner, warum wir sind, wie wir sind" noch unterstrichen. Irreführend für jeden westlichen Besucher Kyôtos war dagegen der offizielle englische Titel ‚Human Images’, der eine Art japanischer Porträtgalerie erwarten ließ und daher zu wenige westliche Besucher anlockte. Bei Japanern, insbesondere der jungen Generation, war dagegen der Erfolg der Ausstellung sehr groß. Das Museum schätzte sich glücklich, nun auch für junge Besucher attraktiv geworden zu sein. Ich hatte das Glück, von einem der verantwortlichen Kuratoren durch die Ausstellung geführt zu werden und von ihm interessante Hinweise zu erhalten.

Die Vorgeschichte der Ausstellung reichte rund zwanzig Jahre zurück. Zu Beginn der achtziger Jahre veranstaltete das Museum in zwei aufeinander folgenden Jahren Ausstellungen zu den Themen „Blumen und Vögel“ (Kachô) und „Landschaften“ (Sansui). Diesen sollte eine dritte Ausstellung zum Thema „Menschen“ (Ningen) folgen. Die Ideen zur Durchführung überzeugten jedoch nicht, und so blieb das Vorhaben in der Schwebe. Mit dem 1996 eingeschlagenen Weg bot sich dann eine überzeugende Realisierungchance.

Für mich wurde die Ningen-Ausstellung ein großes Erlebnis, sowohl in den Ausstellungsräumen selbst als auch bei der Nachbearbeitung durch den Katalog. Deshalb möchte ich sie hier in einem Vortrag vorstellen. Die Ausstellungen von 1996 und 2001 sind in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen gestatten sie am Beginn des 21. Jahrhunderts einen Einblick in die aktuelle eigene Auffassung von klassischer japanischer Kunst. Zum anderen überwand das Museum die klassische Routine der Museumsarbeit durch den mutigen Schritt, seine kostbaren Sammlungsstücke nicht allein wegen ihrer eigenen Aura auszustellen, sondern zur Illustration einer abstrakten Idee zu verwenden.

Die Koinzidenz mit den Ereignissen des 11. September 2001 machte die Ausstellung darüber hinaus für einen westlichen Besucher besonders bedeutsam. Man konnte hier eine Auffassung vom Menschen finden, die sich deutlich von einem westlich geprägten und von Managern, Investoren und Globalisierern vertretenen Wertesystem unterschied. Ziel meines Vortrags ist es, mit dem Bericht über die Ausstellung Ningen auch etwas zum japanischen Menschenbild vorzutragen.

Die Ausstellung gliederte sich in 10 Kapitel. Jedes trug eine eigene Überschrift und wurde in einem eigenen, abgeschlossenen Saal ausgestellt. Unter den 123 hochrangigen Ausstellungsobjekten waren 15 Nationalschätze und weitere 44 Objekte des Nationalen Kulturellen Erbes Japans. Ähnlich wie bereits bei der Ausstellung von 1996 wurde aus dem Gesamtfundus japanischer Kunstwerke geschöpft. Die der Illustration der Kapitel dienenden Objekte kamen aus allen Zeiten, allen Schulen und allen Richtungen. Am Eingang zu jedem Saal stand eine Schrifttafel, auf der auch in englischer Sprache die jeweilige Kapitelüberschrift sowie einige Hinweise zum Thema zu lesen waren. Der unvorbereitete westliche Besucher wurde durch diese Texte überrascht und erst durch sie darauf aufmerksam gemacht, durch eine andre als sonst übliche Museumsausstellung zu gehen.

Bei meinem Weg durch die Ausstellung muss ich mich auf eine kleine Auswahl aus den 123 ausgestellten Werken beschränken. Nicht eingehen kann ich auf solche Stücke, deren Wertschätzung eine detaillierte Kenntnis japanischer Geschichte voraussetzt und solche, die man unbedingt sehen muss, um sie zu würdigen. Ich hoffe aber, dass meine Auswahl einem Interessenten in Deutschland die Faszination der Ausstellung nahe bringen kann.

Um von den zu einigen Objekten beigefügten Bildern zum Manuskript zurückzukehren, müssen Sie die Rücktaste Ihres Browsers benutzen.

Ein Gang durch die Ausstellung Ningen

Erster Saal.

Fesseln der Abstammung

  • Menschen sind sterblich. Es ist unser Schicksal, eines Tages dem Tod zu begegnen. Dieses Schicksal teilen wir mit den anderen Lebewesen auf der Erde, Tieren und Pflanzen. Vielleicht ist es sogar nicht vom Schicksal der Sterne und Milchstraßensysteme verschieden.
  • Aber wir Menschen sind möglicherweise deshalb einzigartig, weil wir unseren Tod vorhersehen und fürchten. Wir haben Angst vor dem Augenblick, in dem sich unser gesamtes Bewusstsein, die Angst vor dem Tod mit eingeschlossen, in Nichts auflösen wird. Gleichzeitig motiviert diese Furcht Vieles im menschlichen Denken. So gesehen mag es sein, dass der Tod die treibende Kraft hinter unserer Kreativität ist.
  • Ein erkennbarer Weg, auf dem Menschen versuchen, ihr Vermächtnis zu bewahren, besteht darin, ihre Nachfolger auf bestimmte Dinge festzulegen. Dieser Abschnitt der Ausstellung beherbergt Objekte, die verschiedene Wege aufzeigen, auf denen Menschen versucht haben, sich mit denen vor und nach ihnen zu verbinden. Wie weit können wir uns, die wir in der modernen Zeit leben, noch mit diesem so wichtigen, wenn auch mitunter abstoßenden, menschlichen Trieb identifizieren?

Neben Bildern bedeutender historischer Staatsmänner und Priester, handgezeichneten Stammtafeln berühmter Familien, einer vorbildlichen Kalligraphie aus dem 14. Jahrhundert und der letztwilligen Verfügung von Kaiser Gotoba aus dem 13. Jahrhundert, die er durch die Abdrücke seiner beiden Handflächen mit roter Stempelfarbe autorisiert hat, haben mich hier zwei Ausstellungsstücke besonders beeindruckt. Zum einen erwähne ich die lebensgroßen sitzenden Figuren des Bildhauers Unkei und seines Sohnes Tankei aus dem 13. Jahrhundert. Diese Bildhauer haben den Stil japanischer Plastik geprägt und eine Schule begründet. Bis heute übt ihr Werk großen Einfluss auf die Ästhetik japanischer bildender Künstler aus. Besonders zu Herzen ging ein weiteres Exponat, ein dem Eingang gegenüber aufgestelltes, etwa 2 Meter langes Spielzeugschiff aus Holz, in dem die lebensgroße Figur eines sechsjährigen Knaben saß. Es war ein Portrait des Sohnes von Toyotomi Hideyoshi (1536-1598), eines großen japanischen Staatsmanns. Es handelte sich um ein posthumes Portrait . Der Knabe war als Dreijähriger verstorben. Drei Jahre später ließ der Vater die Figur so anfertigen, als ob sein Sohn noch lebte und entsprechend älter geworden war.

Zweiter Saal.

Der zweite Saal hatte das Thema Liebe und Leidenschaft. Der diesem Kapitel vorangestellte Einführungstext fragte, was wohl Japaner bezüglich Liebe und Leidenschaft von anderen Völkern unterscheide? Als Antwort wurde vorgeschlagen, dass Japaner das Volk seien, das seit 1000 Jahren den Roman vom Prinzen Genji besitze und verinnerlicht habe. Japaner seien damit die legitimen Erben des Planeten der Liebe.

  • Dieses zweite Kapitel zeigt Kunstwerke, die sexuelle Leidenschaften darstellen und feiern, aber auch solche, die Liebe als Quelle des Abscheus zwischen Menschen thematisieren. Selbst in dem begrenzten Bereich menschlicher Liebe und Leidenschaft ist klar erkennbar, dass man die Komplexheit der menschlichen Seele allein aus der DNA nicht wird erklären können.

Der Blick fiel zuerst auf die handtellergroße, bescheidene, patinierte Bronzeplastik einer sechsarmigen Figur. Westliche Betrachter, die erwarteten, für alle zu dem Thema gezeigten Werke elementares Verständnis aufbringen zu können, wurden wieder einmal eines Besseren belehrt. Was sollte diese Figur mit dem Thema zu tun haben? Alle Japaner aber wussten, dass es sich um Kangiten handelte, ein aus Indien übernommenes himmlisches Wesen, dort Ganesch genannt. Üblicherweise wird es als ein sich in höchster Leidenschaft umschlingendes Paar mit Elefantenköpfen dargestellt. Im Buddhismus der Shingon Schule des esoterischen japanischen Buddhismus wird mit diesem Wesen auf die sexuelle Leidenschaften hingewiesen, die es zu überwinden gilt, um auf edlen Pfad voranzukommen.

War mit Kangiten sozusagen der Grundton dieses Teils der Ausstellung angeschlagen, konnte die unbekümmerte Direktheit weiterer Exponate kaum noch überraschen. Für ein westliches Kunstmuseum der höchsten Qualitätsstufe wäre es sicher höchst problematisch, eine ganze Serie von ‚Frühlingsbildern’ (shunga) auszustellen, die Liebespaare in voller Aktion zeigen.

Bemerkenswert war ein Rollbild von 1471. Der obere Teil zeigte das Portrait eines der größten Zen-Priester Japans, des berühmten Patriarchen Ikkyû (1394-1481) in seinem 77. Lebensjahr, gemalt als Brustbild in einem Zen-Kreis. Darunter war das Bild einer Frau im Haus-Kimono gemalt. Sie kniete auf einer Matte und hatte ein Musikinstrument vor sich. Diese Rolle war von Ikkyû selbst beschriftet worden und gab eine Erklärung für das Doppelportrait. Ikkyû hatte sich als 77-jähriger in eine 50 Jahre jüngere, blinde Sängerin verliebt. Es sind zahlreiche leidenschaftliche Gedichte bekannt, die er ihr gewidmet hat, und auch auf dieser Rolle spricht er ihre Beziehung an:

  • Innerhalb des Zen-Kreises zeigt sich mein Körper, Erbe des großen Zenmeisters Kidô*.
    Meine blinde Geliebte singt von der Liebe
    und lässt mich alten Halunken lächeln.
    Eine Erfahrung mit ihr unter den Blumen ist
    Wie 10 000 mal den Frühling zu erleben.

*Japanisch für Hsü-t’ang Chih-yü (1185-1295), Zen-Meister des chinesischen Mutter-Klosters der Rinzai-Sekte, deren Patriarch in Japan Ikkyû seinerzeit war.

Dritter Saal.

Der japanische Titel nariwai bedeutet tägliches Leben, aber auch Lebensunterhalt und Berufung. Daraus erklärten sich die ausgestellten Kunstwerke. Die ältesten waren prähistorisch (beispielsweise eine Figur aus gebranntem Ton, einen Falkner darstellend, oder ein verzierter Krug). Aus dem 17. Jahrhundert stammten Darstellungen einer Vielzahl von Handwerkern bei der Arbeit. Überrascht stand ich vor einer handwerklich hervorragenden Kalligraphie aus dem 13. Jahrhundert. Es handelte sich um die Abschrift des buddhistischen Kegon-Sutra. Dieses Sutra symbolisiert das Einheitsideal des japanischen Staates und war kostbar mit goldener und silberner Tinte auf tiefblauem Papier gefertigt. Anders als im Westen war der Kontext hier das Handwerk und nicht der Mönch bei seiner frommen Arbeit im Kloster, obwohl auch in Japan die Kopie buddhistischer Texte einen religiösen Kontext hat. Jeder Schreiber, sei er Mönch oder Laie, wird durch durch solche Abschrift innerlich bereichert und dadurch auf seinem Weg befördert.

  • Warum arbeiten wir? Manche mögen nur widerwillig arbeiten, nur um ihren eigenen Lebensunterhalt oder den Unterhalt für die Familie zu erwerben. Die große Mehrzahl der Menschen aber gewinnt erst aus der Arbeit das Lebensgefühl.
  • ‚Heimatlos’ ist ein unerfreulicher Begriff, denn er ignoriert die Tatsache, dass diese Menschen zuallererst keine Anstellung haben. Der Akt des Arbeitens und der menschlichen Würde sind eng miteinander verknüpft.
  • Arbeit, auch wenn sie nichts als tägliche Mühsal ist, wurde oft auf wunderbaren Stellschirmen verewigt. So können wir schon bei unseren Vorfahren die positive Einstellung zur Arbeit erkennen.

Säle vier und fünf.

Der einführende Text des Museums lautete:

  • Gelegentlich sagt man Menschen nach, sie wären Wesen, die das Vergnügen suchen. Obwohl auch Tiere spielen können, kann man aber doch sagen, dass keines so fieberhaft daran Interesse hat wie wir. Zwar geht die Zeit weiter und die Paradigmen der Welt ändern sich, aber nichts davon ändert den Charakterzug, der uns Vergnügungen suchen lässt. Im heutigen Zeitalter der Informationstechnologie erfreuen sich viele an Computerspielen, sie kommunizieren über das Internet und tragbare Telefone. Schade, dass wir nicht nachempfinden können, wie zufrieden unsere Vorfahren mit ihren Vergnügungsmöglichkeiten waren.
  • Jedes Fest hat einen Ursprung, und so wie jede Theateraufführung ihre eigene Geschichte hat, gibt es offizielle Gründe dafür, ein Fest zu begehen. Diese Gründe stellen die Kraft dar, das Fest zu organisieren und wirken nach außen. Die nach innen wirkenden Kräfte sind einerseits der Anspruch, das Fest als ein Ereignis von großer Schönheit zu veranstalten und andererseits alle Teilnehmer in einer fieberhaften Welle zu vereinen. Diese zwei Kräfte werden auf den hier ausgestellten großen Bildschirmen deutlich.

Vergnügungen und Feste haben für Japaner ganz unterschiedliche Bedeutung. Vergnügen, Spiele oder Belustigungen sind rein individueller Zeitvertreib, die Feste dagegen sind Unternehmungen und Erlebnisse in einer Gemeinschaft.
 

Die Ausstellungsobjekte entsprachen weitgehend den Erwartungen. Man konnte eine Vielzahl japanischer Spiele bewundern, insbesondere solche für zwei Personen, wie Karten-, Gô- und Muschelspiele aus dem 17. Jahrhundert, die in wunderschönen Kästen oder Truhen aus Lack verstaut waren. Solche Spiele waren oft Teile der Ausstattung von Bräuten und wurden von ihnen in die Ehe eingebracht. Die großen Festlichkeiten der Städte, Tempel und Schreine waren bildhaft und detailliert auf riesige meist sechsteilige, meterhohe Stellschirme gemalt. Insbesondere die Darstellungen aus der Edo-Zeit mit Malerei auf Goldgrund und vielen, mitunter auch witzigen Details, machten deutlich, dass Japan ein Land der Feste ist. Wer immer in Japan reist wird zu jeder Jahreszeit die Gelegenheit haben, solchen Veranstaltungen beizuwohnen.

Überraschend für mich als westlichen Betrachter war, dass ich im Saal der Vergnügungen auf Darstellungen von Eremiten und Bilder ihres Lebens stieß. Auf zwei großen sechsteiligen Stellschirmen aus dem 16. Jahrhundert sah man Szenen aus dem Leben der berühmten chinesischen Einsiedler, deren Prototypen sich im dritten vorchristlichen Jahrhundert in ein von allem höfischen Trubel distanzierten Leben in der Natur zurückgezogen hatten. Schon im China der Han-Zeit wurden sie zu Idealen stilisiert und zu Kultfiguren erhoben. Literatur und bildende Kunst haben sie immer wieder dargestellt und beschrieben, wie sie, bedient von Knaben, bei philosophischen und vergnüglichen Gesprächen, gegenseitiger Belehrung und körperlichen Freuden ein vergnügliches Leben führten. Mit der chinesischen Literatur gelangten sie im achten Jahrhundert nach Japan und wurden auch dort, bildlich niemals als Japaner sondern stets als Chinesen dargestellt, im Laufe der Zeit immer stärker als Vorbild empfunden. In der Muromachi-Zeit des 16. Jahrhunderts spielten sie sogar eine politische Rolle bei der Überwindung der starren Klassenschranken und wurden zum Vorbild für eine homogene Gesellschaft.

Sechster Saal.

Der 6. Saal war dem Thema Reisen und Sich-Zurückziehen gewidmet. Er wurde durch Reisetagebücher, Gedichte, Darstellungen von Reisenden und ihren mitgeführten Utensilien ansprechend und vielseitig illustriert.

  • Reisen und Sich-Zurückziehen scheint ein Gegensatz zu sein, und doch entspringen sie ähnlichen Regungen. Etwas tief im Herzen Verborgenes hört nicht auf, uns zu rufen. Gelegentlich regt es zu einer weiten Reise an, gelegentlich mahnt es zu innerer Einkehr. So aufregend es sein mag, sich in einer unbekannten Landschaft zu befinden, so wichtig kann es sein, sich in sich zurückziehen zu können , sei es in einer fernen Einöde, sei es mitten in der Stadt.

Siebenter Saal

Dieser Raum war den Träumen der Menschen gewidmet.

  • Der Mensch träumt in Bildern. Er hat weiterhin die Kraft, Dinge durch Träume zu erkennen. Illustrieren wir eine japanische Traumwelt durch Rückgriff in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als fremde Mächte Japan zwangen, seine Abschließung zu beenden und sich der Welt zu öffnen. Alle Japaner lehnten das ab, niemand hatte aber die Kraft, sich erfolgreich dagegen zu wehren. Insbesondere hatten die Menschen der unteren Klassen nicht einmal die Möglichkeit, ihre Meinung dazu zu artikulieren. So verlagerten sie ihre Aggressionen in Träume. Sie malten Bilder der ausländischen Schiffe, wie sie von fliegenden Teufeln angegriffen und vertrieben wurden.

Die Ausstellung zeigte hier das Bild eines der schwarzen Schiffe des Kommodore Perry, die mit ihrer militärischen Überlegenheit die Öffnung Japans nach 250 Jahren selbstgewählter Isolation erzwungen hatten. Durch die Abschließung gegenüber der Welt war Japan vom imperialistischen Kolonialismus des Westens verschont worden. Die Bevölkerung hatte eine Periode ungestörten Friedens und wachsenden Wohlstands durchlebt. Nun kamen „fremde Teufel“ und beeinflussten Staat, Regierung und das Leben des einfachen Mannes. Japan war militärisch hilflos, nur im Traum konnte es sich mit Hilfe seiner eigenen Teufel, der Goblins, befreien. Das wunderschöne, wilde Bild, wurde interessanterweise doppelt abgebildet: einmal an der passenden Stelle im Katalog, zum anderen an prominenter Stelle als Frontispiz. So ist dieses Bild das erste, das dem japanischen Leser ins Auge springt, wenn er den Katalog zur Hand nimmt. Muss man hier „zwischen den Zeilen lesen“? (Bild: Goblins attakieren ein fremdes schwarzes Schiff)
 

Weiter gab es Bilder von Legenden, die Kontakt mit guten Geistern darstellten, Bilder von Wunschträumen, religiösen Träumen, aber auch viele Albtraumgestalten, die nichts Gutes verhießen.
 

Zwei besonders schöne Objekte waren ein chinesisches Seidengewand aus dem 13. Jahrhundert, das damit gekleidete Mönche zu prophetischen Träumen befähigt hatte und eine Kopfstütze für den Schlaf, deren Brokatbespannung sowohl angenehme Traumbilder zeigte als auch zwei Ungeheuer, die in der Lage waren, Albträume einfach wegzufressen.
 

  • Träume bergen Kräfte. Träume befähigen uns Menschen auch, die Kraft des Todes zu leugnen, der alles auslöscht. Mit anderen Worten, durch die Kraft der Träume gelingt es dem Menschen zu leben, ungeachtet der Furcht vor dem Tod.

Achter Saal.

Hier lautete die offizielle englische Überschrift: Behind a Peculiar Facade. Die Übersetzung des japanischen Originals Kotobo (ibo) ni komo ta mono ist wiederum schwierig, da sehr viel hineingeheimnist ist. Die Bedeutung kann sein, dass in eine äußere Form oder Erscheinung etwas anderes hineingeschlüpft ist, ibo bedeutet auch Halbbruder bzw. Halbschwester, die von verschiedenen Müttern geboren wurden. Schließlich wurde durch die Verwendung eines heute nicht mehr gebräuchlichen Schriftzeichens an ein altes chinesisches Märchen erinnert. In diesem war das der Name eines berühmten, weisen Mannes, der als Baby ein so furchterregendes und abstoßendes Aussehen gehabt hatte, dass selbst seine Mutter ihn nicht ertrug. Nur der Vater hatte die Hoffnung gehabt, dass in diesem Ausbund an Hässlichkeit etwas Besonderes steckte.

Das älteste Ausstellungsstück war eine prähistorische Ton-Figur mit einem katzenhaften ‚Gesicht’. Damit sollte wohl demonstriert werden, dass es zu allen Zeiten angeraten war, hinter einer Gesichtsfläche Gutes wie gleichermaßen Böses zu erwarten. Masken für Theater und Tanz erinnerten daran, dass Schauspieler andere Personen verkörpern müssen. Die großartigen Bilder von berühmten Zen-Exzentrikern, die in Aussehen und Verhalten verwahrlost und narrenhaft wirkten, in Wirklichkeit aber auf einer der höchsten Stufen der Weisheit standen, sollten wohl mahnen, Menschen nicht vorzeitig allein wegen ihres Aussehens gering zu schätzen.

Besonders beeindruckte die Idee und Ausführung einer hölzernen Figur aus dem 11. Jahrhundert Sie stellte den berühmten buddhistischen Mönch Hôshi Oshô (418-514) dar, der durch seine Güte und Menschlichkeit über die Jahrhunderte im Gedächtnis geblieben war. Man konnte dank geöffneter Gesichtshaut in sein Inneres blicken und so erkennen, dass in ihm der Bosatsu der Barmherzigkeit steckte.

Dass sich die Ausstellungsmacher aber vielleicht noch etwas ganz anderes für dieses Kapitel gedacht hatten, was man als westlicher Besucher nicht erfühlte, lässt der zu diesem Kapitel gehörige Einführungstext vermuten:

  • Hat der Mensch Fortschritte gemacht und ist intelligenter geworden? Anders gefragt: ist der Mensch ein wissenschaftliches oder ein okkultes Wesen? Dank unseres wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wird es nicht mehr lange dauern, bis wir erste Schritte auf dem Mars machen werden. Aber andererseits ist es auch wahr, dass es immer noch Menschen gibt, deren Faszination vom Mars allein daher kommt, dass sie in den roten Gesteinsmassen ein menschliches Gesicht zu sehen meinen. Schon im 17. Jahrhundert (war das nicht anders. Es) lief in Japan die Beschäftigung mit dem heliozentrischen Weltsystem parallel zu bizarren Portraits von Zen-Mönchen.
  • Vor uns liegen stets viele Wege, deren Ende keiner kennt. Immer in der Geschichte konnte der Mensch nichts anderes tun, als irgendwohin weiter zu schreiten (nach vorn?).

Neunter Saal.

Die offizielle englische Überschrift lautete hier The Fighting Spirit, eine Metapher, mit der für uns ja durchaus positive Charaktereigenschaften angezeigt werden . Die in der Ausstellung gezeigten Objekte thematisierten aber die zerstörerischen Züge im menschlichen Charakter. Also war es geraten, den japanischen Text araburo kokoro neu zu übersetzen. Das war wiederum nicht eindeutig. Es bedeutete sowohl wilde und gewalttätige Aktionen, als auch das heftig bewegte Herz.Die Unschärfe der offiziellen Übersetzung kommt daher, dass man meint, ein Besucher aus dem Westen würde ohnehin Schwierigkeiten mit japanischem Denken haben. Daher wählte man etwas, von dem man das zu treffen hoffte, was ein westlicher Leser wohl erwarten würde.

Der Begleittext zum lautete:

  • Der Akt der Problemlösung durch Kampf zeigt die Primitivität der Menschen. Es unterstützt die Vorstellung, dass der Mensch vom Affen abstammt eher als die, ein Stück aus Gottes Hand zu sein. Die moderne Wissenschaft hat denn auch gezeigt, dass die menschliche DNA zu 98,4% mit der des Schimpansen übereinstimmt. Ferner ist es wahr, dass die Hälfte der menschlichen Gene denen des Hefepilzes vergleichbar sind.
    Menschen hatten stets Konflikte miteinander, einige davon endeten in historisch gewordenen Kriegen. Man kann es nur schwer interpretieren, warum Menschen ihre Krieger wunderschön dekoriert haben und den Krieg als ernste Angelegenheit sehen, es sei denn, sie wären zum Krieg geboren oder gebannt.

Am Eingang des Saales stimmten sechs fast meterhohe bronzene Hellebarden aus prähistorischer Zeit Japans auf diesen Abschnitt ein, der weiter Bilder von Kriegsszenen aus dem 13. bis 17. Jahrhundert zeigte. Zur Illustration der Schizophrenie, Kriegsgerät fein zu zieren, dienten handwerklich hervorragende Lackbehälter, mit eingelegtem Perlmutt und Gold. Sie stammten aus dem 18. Jahrhundert und dienten der Aufbewahrung von Schwertern.

Zehnter Saal.

Den Abschluss der Ausstellung bildeten Wege in die Harmonie, Finden des (inneren) Friedens.

  • Für welches Weltmodell wurden die kriegerischen Anstrengungen unternommen? Jedes Stück dieser Ausstellung kann dazu beitragen, darauf eine Antwort zu geben, wenigstens die Träume oder Hoffnungen unserer Vorfahren spiegeln. Viele der Kunstwerke in dieser Sektion sind hoch berühmt. Aber nehmen wir auch ihre zerbrechliche Ästhetik zur Kenntnis? Manches was wunderschön und edel ist, erscheint uns ephemer. Wir fürchten, diese schönen Dinge könnten verschwinden, wenn wir sie nicht ganz fest bewahren. Warum denken wir so? Vielleicht weil wir trotz unserer Abstammung erkannt haben, dass auch wir ephemer sind, tief innerlich einsame Existenzen in der Welt.

Die Reihe der Objekte begann mit einer verzierten Bronzeglocke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Der Katalog bemerkt dazu u.a.:

  • Zunächst mag es eigenartig scheinen, dass eine archäologische Bronzeglocke in diesen Teil der Präsentation einführt. Eine der Ritzzeichnungen auf dieser Glocke ist die erste Darstellung eines japanischen Bogens , erkennbar durch seine Größe und die Art, wie er in der Hand zu halten ist.
  • Nach Meinung der Historiker dienten solche Glocken in ihrer Zeit, dem Beginn der Reiskultur in Japan, religiösen Zeremonien. 14 solcher Glocken wurden bisher gefunden. Sie symbolisieren für uns den Beginn der authentischen japanischen Shintô-Kultur. So symbolisiert die Glocke die Periode unserer Geschichte, in der unsere Vorfahren Frieden in landwirtschaftlichen Siedlungen fanden.

Bilder friedenstiftender buddhistischer Persönlichkeiten, Darstellungen häuslicher Geborgenheit und angenehmer Empfindungen in der Abendkühle verbreiteten in der Tat eine abgeklärte Atmosphäre.

Am eindrucksvollsten war für mich ein Paar Stellschirme aus dem 16. Jahrhundert, 1,50 Meter hoch und zusammen über 6 Meter lang, die ich bis dahin nur aus Zentimeter großen Drucken kannte. Sie stellen je eine Landschaft im hellen Sonnenlicht und im Mondschein dar. In ihnen konnte man als Betrachter spazieren gehen und sich verlieren.

Am unverständlichsten war für mich im Kontext dieses Kapitels des inneren Friedens eine ca. 13,5 m lange, 44 cm hohe Bildrolle von Iwasa Matabei (1578-1650) „Horie monogatari“. In den leuchtend bunten Farben der klassischen japanischen Kanô-Malschule durcheilte ein Mann viele Stationen, um am Ende schließlich in einem Palast ein gewaltiges Blutbad anzurichten. Was es damit auf sich hatte, musste ich dem Katalog entnehmen, wie im Folgenden beschrieben ist.


Die Wurzeln der Ausstellung

Wie oben bereits bemerkt, musste die Ausstellung Ningen fast zwanzig Jahre auf ihre Realisierung warten, bis die Verantwortlichen des Museums mit dem Konzept zufrieden waren. Die Erhebung von Kunstschätzen in Kyôto zum Weltkulturerbe und die damit verbundenen Überlegungen zur Eigenart japanischer Kultur waren dazu der wesentliche Anstoß. Das legte jedoch weder die Auswahl der Themen noch ihre Anordnung fest. Für ein europäisches Museum in ähnlicher Situation könnte ich mir nicht vorstellen, dass „Träume“ ein Ausstellungskapitel geworden wären, eher schon die Häuser der Menschen oder soziale Fragen. Schon aus der Wahl der Themen kann man bereits das spezifisch japanische Denken erkennen. Wie aber erklärt sich die Reihenfolge der Kapitel?

Das leider nicht in englischer Sprache publizierte Vorwort des Katalogs gibt hierzu Hinweise. Erst kürzlich war die bedeutende, bis dahin unbekannte, Bildrolle „Horie monogatari“ des geschätzten Malers Iwasa Matabei (1578-1650) aufgetaucht. Auf ihr wird die blutige Rache des inzwischen erwachsen gewordenen Sohnes am Mörder seiner Eltern dargestellt. Die Rolle ist rund 13,5 m lang und 44 cm hoch. In den leuchtenden Farben der Kanô-Schule ist der lange Weg des Rächers bis zum schließlichen Eindringen in den Palast des Mörders zu verfolgen, und die Tat zu sehen.

Diese Form der formalisierten Rache heißt katakiuchi und ist Gegenstand zahlreicher Werke der klassischen Literatur, des Theaters und der bildenden Kunst insbesondere der Edo-Zeit. Die Familie des Malers Iwasa Matabei selbst war auf grausame Weise ausgelöscht worden. Sein Vater, der Fürst Araki Murashige, empörte sich 1578 gegen Oda Nobunaga, den damaligen weltlichen Herrscher Japans, der daraufhin in einer bis heute nicht vergessenen und in seiner Grausamkeit kaum übertroffenen Aktion die engere Familie und die Vasallen öffentlich entehrte und töten ließ. Der einjährige Iwasa Matabei entkam dem Massaker durch den Mut seiner Amme, verzichtete später auf seine Adelsrechte und wurde Künstler. Er hatte sein Leben lang innerlich damit zu tun, mit dem Andenken an seinen Vater ins Reine zu kommen, der alles verschuldet und sich noch dazu durch Flucht seiner Verantwortung entzogen hatte, als überhaupt über das blutige Geschehen hinwegzukommen.

katakiuchi ist so stark in der japanischen Gesellschaft verankert gewesen, dass es möglich war, der Ausstellung dieses Leitmotiv zu unterlegen. Der Bezug auf Matabei erleichterte diese Aufgabe. Aufgewachsen mit dem Trauma, der einzige Überlebende eines an seiner Familie verübten Massakers zu sein, nach Verzicht auf die Privilegien seiner Herkunft und Eintauchen in die Welt der Kunst, durch fleißige Arbeit, bei wechselnden, auch fröhlichen Partien, im Leben, überwand er schließlich seinen posttraumatischen Kindheitsstress (PTSD). Er malte dazu Bilder, auf denen ein Nachkomme Rache für den Mord an den Eltern nahm und fand dadurch zu seinem eigenen inneren Frieden. Nobunaga war schon 3 Jahre nach dem Massaker einem Attentat zum Opfer gefallen, an ihm konnte sich Matabei also nicht selber rächen. Matabei’s Lebensablauf lieferte die Themen für die Ausstellung und ihre Reihenfolge : Herkunft, Liebe (durch die Amme und in Erinnerung an die ihm übermittelten letzten Worte der Mutter), Arbeit, Freizeit, Träume, Reisen und Einsamkeit, Darstellung der wilden Gefühle und schließlich das Finden des inneren Friedens.

Nichts in der Ausstellung selbst wies auf diesen Hintergrund. Alle Sujets waren den entsprechenden allgemein menschlichen Empfindungen gewidmet . Die Illustrationen durch die hochrangigen Kunstwerke hat die Distanz zum Einzelschicksal weiter vergrößert .

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