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Das Ise monogatari
Wolfgang Klose
Einleitung
Das Ise monogatari ("Geschichten von Ise") ist das einzige grosse zusammenhängende Werk der japanischen Literatur mit Prosa und Lyrik. Es stammt aus dem Beginn des 10. Jahrhunderts und ist eine Sammlung von 125 Episoden aus dem Leben des Dichters Ariwara no Narihira (825-880). Er wurde seinerzeit als einer der sechs größten Dichter (rokkasen) geschätzt. Ähnlich urteilte noch das 11. Jahrhundert, das ihn als einen der 36 berühmtesten Dichter der Vergangenheit betrachtete. .
Jede der 125 Episoden enthält Gedichte (waka, mit 5-7-5-7-7 Silben), die durch einen, in der Regel kurzen, erläuternden Text begleitet sind (uta monogatari Erzählung mit Gedichten). Viele Gedichte stammen von Ariwara no Narihira oder sind ihm zugeschrieben worden. Sein Name wird nirgends genannt. Jede der Episoden beginnt mit den Worten mukashi otoko (Vor Zeiten war da ein Mann...), die viele japanische Interpreten als Epithet für den Namen Narihira ansehen. Unbestimmt sind auch viele Schauplätze, Daten und Personen. Das gab Anlass zu vielen Interpretationen, die seit 1000 Jahren immer wieder versucht worden sind.
Seit der Kamakura-Zeit wird bis heute eine Standardversion mit 125 Episoden tradiert, die auf Fujiwara no Teika (1162-1241) zurückgeht. Unterschiede zu den Texten von Fragmenten aus früherer Zeit gestatten Einblicke in die Entstehung und Verbreitung des Werks.
Über den Namen Ise gibt es viele Vorstellungen. Sicher ist, dass das Werk schon im 10. Jahrhundert so genannt wurde. Beispielsweise wird es im Genji von Murasaki Shikibu im Kapitel Bilderwettstreit bereits unter seinem Namen ‘alte’ Literatur zitiert. Mir erscheint die von den Japanologen Karl Florenz und W. G. Aston Anfang des 19.Jahrhunderts gegebene Erklärung einleuchtend.
Florenz schreibt :
"Der Titel hat eine metaphorische Bedeutung. Die Leute von Ise waren als Aufschneider bekannt, ähnlich wie die Kretenser bei den Griechen, weshalb ein altes Sprichwort besagte: Isobito wa higagoto shiheri (ein Mann aus Ise hat eine Unwahrheit erzählt), und eine spätere Redensart Ise ya Hiûga no monogatari (Geschichten aus Ise und Hiûga), was so viel wie unwahre Geschichten bedeutet. Der Titel deutet somit an - was man sich auch ohnehin hätte denken können - dass wir es nicht mit historische Autorität besitzenden Berichten, sondern mit zurechtgemachten Geschichtchen zu thun haben, in denen aber auch zweifellos viel wirklich Geschehenes mitverarbeitet worden ist."
Aston bemerkt:
"A free rendering of Ise monogatari would be 'tales for the Marines' - a title under which we should not expect to find a very conscientious adherence to actual fact."
Das Ise monogatari wurde zu allen Zeiten immer wieder neu abgeschrieben und illustriert. Es war Gegenstand unzähliger Kommentare. Sechs klassische Nô-Spiele erinnern auf dem Theater seit der Kamakura-Zeit beständig an einzelne Episoden oder Themenbereiche. Maler, Kalligraphen, Lackkünstler, Plattner, Weber und viele weitere Künstler nahmen sich der Ise monogatari- Stoffe an. Ein Blick in das Internet belegt mit mehr als 250 Treffern, unter anderem der Textfassung aller Gedichte, die andauernde Beliebtheit. Japanische Fachleute sagen, dass es kein anderes literarisches Werk in Japan gibt, dass einen so befruchtenden Einfluss auf Künstler ausgeübt hat. Dagegen blieb das Ise monogatari im Westen lange Zeit fast unbeachtet. Eine vollständige Übersetzung erfolgte erst 1923 in die russische Sprache . Englisch ist es seit 1957 durch die Leidener Dissertation von Frits Vos verfügbar , dessen historische und literaturwissenschaftliche Kommentare keine Informationswünsche offen lassen. Eine die Poesie betonende englische Übersetzung stammt von Helen Craig McCullough . In deutscher Sprache gibt es das Werk seit 1981, als Siegfried Schaarschmidt seine werkgetreue Übertragung vorlegte, die es fertig brachte, die oft zarte japanische Poesie vorzüglich in adäquates deutsches Empfinden zu übertragen .
Das Ise monogatari war in Japan früher eine beliebte Frauenlektüre. Im Westen galt es Ende des 19. Jahrhunderts als etwas anrüchige erotische Literatur. In der Tat werden in vielen Episoden Liebesabenteuer und Liebesempfindungen vorgestellt. Man darf jedoch nicht übersehen, dass im Text viele menschliche Empfindungen thematisiert sind, die mit Erotik nichts zu tun haben.
Gemäß der Überlieferung handelt es sich bei den Episoden des Ise monogatari um Notizen aus dem Leben des Dichters Ariwara no Narihira (825-880). Narihira war der fünfte Sohn des kaiserlichen Prinzen Ahô (Ein Sohn von Kaiser Heizei und der Prinzessin Ito, einer Tochter von Kaiser Kammu) und jüngerer Halbbruder des auch als Dichter bekannten kaiserlichen Rats Ariwara no Yukihira. Im Jahre 826 fiel der Vater in Ungnade und wurde mit seinen Söhnen in den einfachen Adelsstand zurückversetzt. Dabei erhielt die Familie den Namen Ariwara. Narihira bekleidete erst kurz vor seinem Tod als Leiter des kaiserlichen Geheimarchivs ein hohes Staatsamt. Das Sandai jitsuroku (authentischer Bericht vom Kaiserhof) beschreibt ihn so: „Schön von Gesicht und Figur, nachlässig, hemmungslos unachtsam; abgebrochene Schulausbildung; befähigter Dichter japanischer Verse.“ Seine Schönheit ist bis heute sprichwörtlich. Einen schönen Mann nennt man noch immer einen Narihira.
Bereits Minamoto Tsunenobu (1016-1097) berichtet, dass man in Narihira eine Verkörperung des pferdeköpfigen Kannon (Batô Kannon; Hayagrîva) sah, der alle 4 Himmelsrichtungen durcheilt und alle Anfeindungen besiegt. Außerdem wurde Narihira als Inkarnation des Boddhisvatva von Gesang und Tanz betrachtet. Wir haben hier eine für das japanische Denken typische Mischung aus shintôistischen und buddhistischen Elementen. Bedeutende Menschen konnten schon immer als Kami (unzureichend mit göttliche Wesen übersetzbar) angesehen werden, die Verbindung mit einem buddhistischen wohltätigen Boddhisvatva macht diese Vorstellung bildhaft. Gesang und Tanz repräsentieren die schönen Seiten des Lebens. Narihira verkörpert damit auf hohem Niveau Lebensfreude und positive Empfindungen. Er ist meines Wissens der einzige Boddhisvatva, der Schriften hinterlassen hat, die jedermann lesen kann.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begann Japan von der Pax Tokugawa zu profitieren. Die Künste florierten, Kalligraphie und Malerei erreichten einen Höhepunkt. In einer privaten Druckerei in Saga bei Kyôto wurden unter Aufsicht von Honami Kôetsu, einem der größten Künstler seiner Zeit, anspruchsvolle Bücher gedruckt. Diese Saga bon wurden Muster für Form, Layout und Illustrationen für viel spätere Editionen. Die Holzschnitte gelten als Vorbilder der später aufkommenden Kunst der Farbholzschnitte des 18. und 19. Jahrhunderts . 1608 wurde das Ise monogatari gedruckt und wurde damit das erste gedruckte weltliche illustrierte Buch Japans. Bemerkenswert ist, dass keine spätere Buchausgabe andere als die 49 ganzseitigen schwarz-weißen Holzschnitte der Erstausgabe verwendet hat.
Inhaltsangabe
Nachdem der Held einige Abenteuer, darunter auch unerfreuliche, erlebt hat, gelegentlich auch die Verletzung gesellschaftlicher Regeln nicht scheute, wird ihm das Leben in der Hauptstadt unerträglich. Mit einigen Freunden bricht er zu angenehmeren Plätzen auf. Die Reise führt in die östlichen Provinzen. Er erlebt neue Abenteuer, die Sehnsucht treibt ihn aber wieder zurück nach Kyôto, wo ein mit Pflichten und mit Würde nur mäßig ausgestattetes Hofamt Zeit zum Umgang mit Damen und Betrachtungen über die zwischenmenschlichen Beziehungen läßt. Auf einer Gesandtschaftsfahrt erfährt der Held die alle Tabus durchbrechende Leidenschaft einer Priesterin. Offizielle Anlässe bieten weitere Einsichten in menschliches Verhalten. Als Freund nimmt er Opfer auf sich und folgt einem in die Berge. Der Abschied von der sterbenden Mutter fällt schwer. Mit den Jahren machen sich Anzeichen des Alters bemerkbar; die Schönheit der Natur wird tiefer und in ihrer Vergänglichkeit begriffen. Dies wird in den zwei letzten Episoden (124 und 125) besonders deutlich (Übersetzung von Siegfried Schaarschmidt).
Einmal dichtete ein Kavalier, man weiss nicht recht, in welcher Stimmung:
Was ich empfinde, bleibe besser ungesagt; denn da ist keiner, der, dass er mich verstünde, meine Gefühle teilt.
Einmal war da ein Kavalier, der lag krank darnieder, und als er fühlte, dass er sterben würde, sprach er das Gedicht:
Dass ich diesen Weg, wie oft ich von ihm gehört, so von einem Tag auf den anderen gehen muß ach , ich hätte es nie gedacht !
Das Ise monogatari in Werken der bildenden Kunst und Literatur
Da das Werk in den 1000 Jahren nach seiner Entstehung stets Anteil an der literarischen Bildung in Japan hatte, konnten sich neben den Kunstwerken aus allen Zeiten auch literarische und historische Erinnerungen damit verbinden. Ohne ihre Kenntnis fällt es einem Europäer schwer, diese Dichtung voll zu würdigen. Japaner mögen ähnliche Probleme haben, wenn sie sich dem Nibelungenlied zu nähern versuchen. Fast jeder von uns, auch wenn er die originale Dichtung nie gelesen hat, assoziiert mit den Nibelungen ein reiches Umfeld, das von Siegfried bis Attila reicht.
Nach der dramatischen Reform der Lehrpläne an den Schulen nach dem 2. Weltkrieg haben heute selbst Japaner Schwierigkeiten mit dem Verständnis literarischer Werke ihrer eigenen alten Kultur. Der technische Fortschritt fordert einen so großen Anteil am Stundenplan, dass für eine breite Vermittlung alter Poesie kaum Zeit ist. Eine Ausnahme bildet eine Sammlung von Gedichten Hyaykunin isshû aus dem Jahr 1235. In dieser ‘Sammlung von je einem Gedicht von 100 Dichtern’ sind Gedichte aus der Mitte des 7. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts zusammengetragen. Es ist eine in vielen Familien immer noch gepflege Sitte, am Neujahrstag ein Bilderlotto zu spielen, bei dem jedes der 100 Gedichte auf je 2 Karten aufgeteilt ist, die man im Spiel zusammen bringen muss. Zu jedem Jahresende erscheinen dafür im allgemeinen Handel immer wieder neue Ausgaben. In dieser Sammlung sind auch zwei Gedichte des Ise monogatari enthalten.
Zur Zeit der Götter war es so prächtig nicht: auf den Wassern des Tatsutagawa, dies china-rote Geflimmer!
Angespielt wird hier auf die Zeit der Herbstlaubfärbung, in der Japaner weite Reisen unternehmen, um die schönen Farben zu genießen. Der Tatsutagawa-Fluß, zwischen Nara und Kyôto ist bis heute ein beliebtes Reiseziel zur Zeit der Herbstlaubverfärbung geblieben, bei dessen Anblick man sich der alten Dichtung erinnern mag.
Die neunte Episode des Ise monogatari ist die erfolgreichste, wenn man die Anzahl der Künstler, die sie mit eigenen Werken kommentierten, als Maßstab wählt. Eine Gruppe junger Männer kommt auf ihrer Reise durch die Ostprovinzen an ein Sumpfgebiet und sehen in ihm einen verzweigten Fluss. Der Weg wird über ein System von acht Stegen geführt, wobei über jeden Flussarm durch einen Steg überbrückt wird. Im Sumpf stehen zahlreiche lila Schwertlilien (Kakitsubata; Iris laevigata) in voller Blüte. Die jungen Männer werden vom Heimweh überwältigt. Das Motiv der acht Zickzackbrücken (yatsuhashi) und diese Schwertlilienart haben viele Künstler der bildenden und dekorativen Kunst zu Werken angeregt. Es gibt Gemälde, Stellschirme, Lackarbeiten, Keramik, Textilien und Schwertzierrate mit den Achtbrückenmotiv und Schwertlilien. In Landschaftsgärten kann man die Szenerie besichtigen, wobei der berühmte Koraku-en in Okayama Vorbildfunktion hatte.
Die anhaltende Popularität dieser Episode mag ihre Ursache zusätzlich auch darin haben, dass die 8 Brücken, die das unwegsame Gelände begehbar machen, an den buddhistischen ‘Edlen Achtfachen Weg (yatsu seidô)’ erinnern, der zur Erlösung des Menschen von seinen Leiden führt.
Auch die Episode 23, die Jugendliebe, Ehe, Treue und Untreue behandelt, wurde von vielen Künstlern aufgegriffen und mit eigenen Ideen immer neu dargestellt. Hierzu gibt es auch ein Nô-Spiel.
Häufig zitiert wird aus Episode 6: "Bruch gesellschaftlicher Konventionen" zur Überwindung sozialer Unterschiede zwischen Liebenden. Episode9: "Verschlungene Pfade der ersten Liebe", symbolisiert durch Efeuranken und Ahornblätter; Episode 43: "Untreue", symbolisiert durch einen Kuckuck; Episode 50: "Vergebliches Bemühen", symbolisiert durch Schreiben eines Liebesbriefs auf eine Wasseroberfläche.
Ein für westliche Betrachter nicht direkt nachvollziehbarer zusätzlicher Charme geht für Japaner von den im Ise monogatari erwähnten Landschaften, Gewässern, Provinzen aus. Da sich ihre Namen im Laufe der Geschichte geändert haben, konservieren die Gedichte nun seit schon 1100 Jahren ein Stück alten Japans. Viele historische Lokalitäten sind mit Begebenheiten, Mythen oder Wunschvorstellungen verbunden. Wir erwähnen den damals aktiven Vulkan Asama in der Provinz Shinano (Episode 8), ferner die Präfektur Musashi (Episode 13), wo man Steigbügel produzierte, die bis heute Symbol dafür sind, dass man an jemanden sein Herz gehängt hat.
Von den insgesamt 209 der im Ise monogatari enthaltenen Gedichten sind 76 in andere Gedichtsammlungen (wie in das Kokin-waka-shû) als Gedichte von Ariwara no Narihira aufgenommen worden . Einige stammen nachweislich von anderen Autoren, sogar solchen, die vor Narihira lebten. Das zeigt, dass die heute vorliegende Fassung des Ise monogatari Bearbeitungen und Modifikationen erfahren haben muß.
Die ältesten erhaltenen Bilder sind Heian- zeitliche (794-1185) Einblattdrucke in Fächerform („Semmen Koshakyô“, heute im Tennô-ji in Ôsaka) aus dem 10. Jahrhundert. Sie wurden im 12. Jahrhundert mit Sutren überschrieben, was ihre Erhaltung sicherte. Aus dem 13./14. Jahrhundert gibt es eine schwarz-weiße Bildrolle, ebenfalls mit einem Sutra überschrieben. Farbige Bildrollen (e-maki) jüngeren Datums sind sehr häufig.
Das Ise monogatari als Thema in Nô-Spielen
Die Tradition der Nô-Spiele wird auf frühe Shintô-Rituale zurückgeführt, die lange vor dem Einbruch der chinesischen Kultur in Japan zelebriert wurden. Damit ist das Nô-Theater eine der ältesten lebendigen Theaterformen in der Welt. Die heute noch gespielten 253 von etwa 2000 Stücken stammen fast alle aus der Muromachi-Zeit (1336-1568). Der Shôgun Ashikaga Yoshimitsu (1358-1408) hatte diese Theaterform zur Hofkultur erhoben und die Schauspielerdichter Zeami Motokiyo (1363-1443) und seinen Vater Kanami Kichosugo (1333-1384), Begründer des Kanze-Theaterstils, gefördert. Von Zeami gibt es viele theoretische Abhandlungen über das Nô, aus denen die tiefe Verwurzelung seiner Kunst im Zen-Buddhismus ersichtlich wird.
Sechs der heute noch gespielten 253 alten Stücke greifen Motive aus dem Ise monogatari auf. Bis auf die Oshio (nach der Episode 76) liegen alle in europäischen Sprachen übersetzt vor . Als diese Nô-Spiele geschrieben wurden, lag die Entstehung des Ise monogatari bereits rund 500 Jahre zurück. So bieten diese Stücke gewissermaßen Blicke aus ‘Kamakura-Augen’ auf die Dichtung. Man gewinnt so ein recht authentisches Bild sowohl der klassischen japanischen Weltanschauung als auch des Stellenwerts des Ise monogatari. Nô-Texte enthalten im Vergleich zu allen anderen Werken japanischer Literatur die intensivsten Referenzen auf andere literarische Werke . Die Stücke um das Ise monogatari bilden dabei die extremsten Fälle. Sie enthalten die Vieldeutigkeiten des Originals ebenso wie religiöse Vorstellungen.
(Episode 9). Das Nô - Stück Kakitsubata (Schwertlilien) (Zeami zugeschrieben) spielt an einem Sommertag bei den acht Brücken in Mikawa Im ersten Akt kommt ein Mönch an den Ort der acht Zickzackbrücken und erfährt von einem Dorfmädchen die Geschichte aus dem Ise monogatari. Die Schwertlilien erinnern den Zuschauer an Narihira, ihre Farbe ist Symbol für Amidas Paradies, das er, auf einer Purpurwolke stehend, öffnet. Im zweiten Akt offenbart sich das Mädchen als die Seele der Schwertlilien und entschwindet schließlich in das westliche Paradies Amidas die Erkenntnis hinterlassend, dass „selbst die Seelen der Blumen, Bäume oder des Grases zum Buddha werden können“. Sumidagawa (von Jûrô Motomasa (-1432, dem Sohn Zeamis) übernimmt aus der neunten Episode das Abschlußgedicht, das die Gefühle bei der Überfahrt über den Sumida Fluß schildert, bettet es aber in eine ganz andere Geschichte ein. Eine Mutter, auf der Suche nach ihrem Kind, muß dazu den Fluß überqueren. Ihre Angstgefühle werden durch das Gedicht wiedergegeben (der Hauptstadtvogel ist ein Austernfischer ( Haematopus ostrealegus), japanisch ‘Miyako-dori’. Miyako war die übliche Bezeichnung für die Hauptstadt Kyôto
Wenn es denn wahr ist, was dein Name verheisst - sag Hauptstadtvogel: wie mag es ihr ergehen, lebt sie noch, die ich liebe?
(Episoden 6, 12, 65, 123 und 9). Im Nô-Stück Unrin'in (aus der Zeit Zeamis) erreicht ein Wanderer, der seit seiner Kindheit das Ise monogatari immer wieder gelesen hat, den Tempel Unrin. Er folgt einem Traum, der ihm Narihira und die Kaiserin Nijô unter Blüten in diesem Tempel gezeigt hatte, der aber noch ein Geheimnis verbarg. Dieses wird im zweiten Akt durch den Geist Narihiras als die Tiefe seiner Liebe zu Nijô aufgelöst Das zusammen mit diesem Nô-Spiel traditionell aufgeführte (heitere) Kyôgen-Stück stellt weitere Interpretationen des Ise monogatari vor.
(Episode 23) Izutsu (von Zeami) greift die Zeilen des ersten Gedichts der Episode 23 auf, die - ungewöhnlich in japanischer Dichtung - rhythmischen Wohlklang vermitteln: „Tsutsu izutsu izutsu no...“ (man spreche das z wie ein weiches s). Tsutsu wie auch izutsu bedeuten Brunnenrand. Im ersten Akt kommt ein Wandermönch an den Ariwara-Tempel und trifft eine Frau, die das Andenken Narihiras pflegt. Sie erzählt von der Liebe der Ehefrau Narihiras. Im zweiten Akt erweist sich die Frau als der Geist dieser Ehefrau. Sie liebt ihn noch immer so wie damals, als sie als Kinder am Brunnenrand spielten.
(Episode 76) Das Nô-Spiel Oshio ist nach dem Oshio-Berg benannt, an dem die Ôhara-Gottheit verehrt wurde
Am heutigen Tag wird die Ôhara-Gottheit hier am Oshio-Berg wehmütig dessen gedenken, was in alten Zeiten geschah.
(Episode 99) Ukon ist der Name einer Abteilung der kaiserlichen inneren Palastwache. Im 5. Monat jeden Jahres fand ein Reiterwettbewerb mit Pfeil und Bogen in der Nähe des heutigen Kitano Tenjin Schreins statt. Bei einem dieser Manöver erblickte Narihira eine Dame in einem Ochsenkarren und versuchte, mit ihr in Kontakt zu kommen.
Hinweise auf die wichtigste, hier verwendete moderne Literatur
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Aston, W. G.: Japanese Literature. Reprint by Charles E. Tuttle, Rutland, Vermont & Tôkyô 1972, p. 81
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Brazell, Karen, Editor: Twelve Plays of the Noh and Kyôgen.Series East Asia Program, Cornell University Ithaca N.Y.,1988 (Viele Kommentare. Enthält Unrin’in und Kakitsubata)
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Florenz, Karl: Geschichte der japanischen Literatur, Leipzig 1909. Unveränderter Nachdruck Stuttgart 1969. Seite 166.
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Ise Monogatari. Machine-readable version: University of Virginia Electronic Text Center, based on a Takeda-bon manuscript. Publicly-accessible: 1997 Rector and Visitors of the University of Virginia. http://etext.lib.virginia.edu/japanese/
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Kokinshû (Gedichtsammlung aus alter und neuer Zeit), herausgegeben um das Jahr 905 von Ki no Tsurayuki (-945?).
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Kokinshû. A Collection of Poems Ancient and Modern. Translated and annotated by Laurel Rasplica Rodd with Mary Catherine Henkenius. Princeton University Oress 1984. Paperpack 1996 (Boston)
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Konrad, Nikolai Josifowitsch: Erste vollständige Übersetzung in die russische Sprache 1923. (Neuauflage Moskau 197.McCullough, Helen Craig, Tales of Ise. Stanford University Press, Stanford 1968
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Pfizmaier, August: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philoso-phisch-Historische Klasse, Wien 1876. Erste Übersetzung von 77 der 125 Episoden in die deutsche Sprache mit Romaji-Übertragung
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Rumpf, Fritz: Das Ise monogatari von 1608 und sein Einfluß auf die Buchillustration des XVII. Jahrhunderts in Japan. Berlin 1931
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Sanjûrokkasen, Sammlung der bedeutendsten Dichter, die vor dem 11. Jahrhundert lebten. Herausgegeben um das Jahr 1000 durch Fujiwara no Kintô.
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Schaarschmidt, Siegfried: Das Ise monogatari. Kavaliersgeschichten aus dem alten Japan. Insel-Verlag Frankfurt am Main 1981
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Vos, Frits: A Study of the Ise-Monogatari, the text according to the Den-Teika-Hippon and an annotated translation. Mouton & Co 1957. s’Gravenhage, 2 Vols
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Bilder eines Kartenspiels
Ähnlich wie bei der oben erwähnten 100 Dichter-Gedichtsammlung Hyakunin-isshû sind auch die Gedichte des Ise monogatari als Bilderlotto verarbeitet worden. Wegen der 209 Gedichte, die auf je zwei Spielkarten untergebracht sind (eine Karte mit Bild und Oberstrophe 5-7-5 Silben, die andere Karte mit der Unterstrophe 7-7 Silben) ist das Spiel sehr umfangreich und sicher schwierig zu spielen. Die hier gegebenen Bildbeispiele gehören zu einem Spiel von ca. 1815. Die einzelnen Gedichte (Waka mit 5-7-5-7-7 Silben) sind dabei auf je 2 Karten untergebracht.
Wie bereits erwähnt, verwendeten alle gedruckten Versionen des Ise monogatari nur die 49 schwarz-weissen Bildsujets der Erstausgabe. Für ein Bilderlotto mit 219 Bildkarten waren also viele neue Bilder zu erfinden. Die Bilder unseres Kartenspiels sind im Stil der Kanô-Schule gemalt. Der Stil dieser Malereien orientierte sich an dem in der Yamato-e-Schule entwickelten Hikime-Kagihana-Stil. Augen und Mund sind einfache Querstriche, Nasen werden als Haken dargestellt und das Profil durch eine flüchtige Linie, gelegentlich auch durch eine von der Stirn zum Kinn führende Bogenlinie angedeutet. Die Genremalerei ist in aller Regel einfallsreich und sehr typisch für japanische Landschaften und Stimmungen.
Der Stil der Kalligraphie ist der in höfischen Kreisen seit dem 13. Jahrhundert gepflegte Jimyôin-Stil, der an die kalligraphische Kunst der Heian-Zeit erinnert . Jüngere Japaner können heute die auf den Karten verwendete Kalligraphie weder lesen, noch alle Zeichen (Kanji) zuordnen. Daher ist auch für sie eine ‘Übersetzung’ in lesbares, modernes Japanisch erforderlich.
Die vorliegenden Karten sind von Hand bemalt und mit dem Pinsel beschrieben. Als Mal- und Schriftgrund dient eine feine Seide. Das zum Bekleben der Rückseite des Trägerkartons dienende Silberpapier ist so nach vorn umgebogen und auf die Seide aufgeklebt, dass sich ein feiner 2 mm breiter Rahmen um jede Karte ergibt. Das Format der Spielkarten ist 55x79 mm. Die Karten sind in 4 Stapeln in mit Brokat bezogenen Faltkartons untergebracht, die innen mit dem gleichen Silberpapier bezogen sind. Die vier Stapel sind in einem schwarzen Lackkasten mit der Aufschrift Ise monogatari / Go Shika-garuta (Dichterkarten) untergebracht.
Auf zwei dem Spiel beiliegenden Silberpapieren, der gleichen Art wie sie beim Bezug der Kartenrückseiten verwendet wurden, sind die Namen der Kalligraphen und Maler angegeben: Ichijô Tatayoshi sowie Nijô Harutaka . Ichijô Tadayoshi, geboren 1773, wurde am 2.4.1814 zum Sadaijin (1. Minister) und am 19.9.1814 zum Kampaku (Grosswesir) ernannt. Er starb im 64. Lebensjahr am 3.6.1837. Nijô Harutaka, gestorben am 6.10.1826 war seit dem 20.4.1796 Sadaijin. Beiden Namen wurden noch die Zeichen kô (Ehrentitel hoher Staatsbeamter) und shinpitsu nachgestellt. Letzteres wird üblicherweise nur bei einer eigenhändigen Schrift des Kaisers verwendet. Aufgrund der Amtstitel kann man die Entstehung des Spiels datieren. Ein weiterer im Kasten liegender alter Zettel trägt die Jahresangabe „Jahr der Ratte“ und könnte somit auf das Jahr 1816 verweisen.
Die Spielkarten sind mit großer Sorgfalt hergestellt. Die als Schrift- und Malgrund dienende Seide ist mit Goldflittern nach Art der Kyôto-Papiere belegt und zusätzlich mit einer dünnen Lasur wolkenähnlich strukturiert.
Bildbeispiele aus dem Kartenspiel mit den zugehörigen Texten (Deutscher Text nach Siegfried Schaarschmidt)
Episode 9.1
Weil aber keiner (der Freunde) den Weg kannte, ritten sie ein über das andere Mal in die Irre, bis sie in der Provinz Mikawa eine Stelle erreichten, die man als Achtbrücken bezeichnete. Der Name rührte daher, dass sich dort ein Wasserlauf wie Spinnenbeine zerteilte und man über jeden Flussarm einen Steg geschlagen hatte. An diesem morastigen Platz stiegen sie im Schatten der Bäume von ihren Pferden und verzehrten das karge Mahl der Reisenden. Im Sumpf standen die anmutigen Kakitsubata Schwertlilien in voller Blüte. Bei ihrem Anblick meinte einer der Begleiter: »Beschreibt doch einmal solche Reisegefühle in einem Gedicht, in dem jede Zeile mit einer Silbe der Blume Kakitsubata beginnt.« Und der Kavalier rezitierte:
Oh, dass ich das Gewand, das vertraute, dass ich sie, die Geliebte, verließ! Fremder werden die Lande, bittrer die Sehnsucht nach ihr.
Da fielen ihnen allen Tränen auf den trockenen Reis, bis die Körner davon aufquollen.
9.1
Karagomoro / Kitsutsu narenishi / Tsuma shi areba / Harubaru kinuru / Tabi o shi zo omou.
Episode 14.3
Ein Kavalier kündigte einer Dame seine Abreise in die Hauptstadt mit diesem Gedicht an:
In Kurihara die Aneha-Kiefer - ein Mädchen müßte sie sein: mitzunehmen in die Stadt zum Gedenken an die Reise.
Die Dame verstand, dass sie sich glücklich schätzen dürfe. „Also liebt er mich“, sprach sie zu sich.
14.3
Kurihara no / Aneha no matsu no / Hito naraba / Miyako no tsuto ni / Iza to iwamashio.
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